Page 5 - Basler Woche Kleinbasel - KW 52 - 2021
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DIENSTAG, 28. DEZEMBER 2021 SEITE 5
«Ungewissheit und Komplexität sind ein Motor für Veränderungen»
Neue Rahmenbedingungen und veränderte Anforderungen machen den Weg frei für neue Lösungen
Die Corona-Pandemie, das genutzt werden, mit denen die Ungewissheit und
Klima, die AHV: Die Credit Wirksamkeit der Institution Komplexität als Motor für
Suisse veröffentlicht die Er- beeinflusst werden kann.Denn Veränderungen
gebnisse der neusten Um- unerwartete Ereignisse zu ma- Das Verwischen von Zustän-
frage zu Sorgen, Vertrauen nagen, und gerade in Krisen- digkeitsbereichen sowie der
und Identität der Schweizer zeiten zu improvisieren und Versuch, sich für Initiativen
Stimmbevölkerung. Aber man riskante Entscheidungen zu und Ideen zu öffnen, gehören
kann es auch optimistisch treffen, sind wichtige Eigen- nicht zwingend zu den Para-
formulieren: Die Herausforde- schaften, die kein Algorithmus dedisziplinen formaler Orga-
rungen sind ein Motor für Ver- ersetzen kann. Schnelle An- nisationen. Zudem ist Manage-
änderungsprozesse. passungen an Situations- bzw. ment (eher) eine Animations-
Marktveränderungen setzen vo- aufgabe, die man nicht einfach
Die Corona-Pandemie und raus, dass Führungskräfte Frei- abarbeiten kann. Die Chance,
ihre Folgen stehen auch 2021 räume haben. Was zählt sind Ungewissheit und Unsicherheit
an erster Stelle der Sorgen der Erfahrung und Abgeklärtheit. durch die Krise akzeptieren zu
Schweizerinnen und Schwei- Die braucht es dringend nö- müssen, hilft, den Umgang mit
zer – dicht gefolgt vom Thema tig, denn Führung hat in digita- Komplexität zu lernen. Die Un-
Umweltschutz und Klimawan- len Zeiten nämlich ein (grund- gewissheit anzunehmen, führt
del und der Sorge um die AHV/ sätzliches) Problem: Komplexi- zu einer veränderten Sicht-
Altersvorsorge. Erstaunlich: tät und Optionsvielfalt können weise und kann einen Paradig-
Nur noch 14 Prozent erachten überfordern, während Daten- menwechsel in Management
die Arbeitslosigkeit als Prob- flut und Algorithmen ein trü- und Führung ermöglichen und
lem. Dazu passt, dass zwei Drit- gerisches Gefühl der Kontrolle zu wesentlichen Veränderun-
tel der Befragten wie im Vorjahr vermitteln – Denkfallen, die gen in den Organisationen füh-
ihre persönliche wirtschaftliche Führungskräfte daran hindern, ren. Für die meisten Organi-
Situation trotz der Pandemie als ihre ureigenste Aufgabe zu er- sationen stellt sich denn die
eher gut bezeichnen. Zu diesen füllen: selbst zu denken und Pandemie-Krise auch nicht
Erkenntnissen kommt die neue souverän zu entscheiden. als ein einzelnes grosses Prob-
Ausgabe des Credit Suisse Sor- lem, sondern als Bündel vieler
genbarometer. Klassische Sor- Einzelprobleme dar. Dagegen
genthemen wie Arbeitslosigkeit sind Organisationen konserva-
oder Migration scheinen lang- tive Systeme, die sich mit all
sam in den Hintergrund zu tre- Bild: PEXELS ihren Spielregeln selbst erhal-
ten. Themen, die eher postma- Herausforderungen sorgen auch dafür, dass man über sich hinaus wachsen ten (wollen). Es braucht schon
teriellen Charakter haben und und Veränderungen annehmen kann... eine kräftige Irritation oder
die gesellschaftliche Gerechtig- Störung, um dies dauerhaft zu
keit als Anliegen verfolgen, ha- Freiwilliger sowie drastischer ger schnell gewachsen ist wie verändern.
ben Aufwind. Und natürlich do- Sicherheitsmassnahmen, setz- die ältere Bevölkerung, neh-
minieren die Gedanken um die ten die Institutionen weiter men auch andere Betreuungs- Krisen beschleunigen
persönliche wirtschaftliche Si- unter Druck. Hinzu kommt der formen ausserhalb von Institu- Veränderungsprozesse
tuation. Um es positiv zu for- grundsätzliche Zwang, sich den tionen stetig zu. Dank der Digi- Wie die Welt nach Corona aus-
mulieren: Es gibt Herausforde- sich ändernden gesellschaft- talisierung steigt das Potential sieht, ist ungewiss, Progno-
rungen zu meistern. Dieser Mei- lichen, technologischen, poli- neuer Geschäftsmodelle sowie sen ohne Anhaltspunkte sind
nung ist auch der Basler Dr. Mat- tischen und wirtschaftlichen die aktive Unterstützung der Spekulationen. Vieles scheint
thias Schweizer, Sozialökonom Rahmenbedingungen anzupas- Betreuungs-, Begleitungs- und in der aktuellen Krisen- und
und in der Region bekannte In- sen. Durch die Ökonomisierung Pflege-Tätigkeiten. Bspw. hat Marktumbruchssituation mög-
terim-Manager. Besonders wenn der Geschäftstätigkeiten sowie die Ausbreitung des Internets lich, was vor der Krise unmög-
es um die systemrelevante So- der Spezialisierungs-Tendenzen Kommunikations- und Kont- lich schien. Gleichzeitig ist
zial- und Gesundheitsbranche bezüglich Klienten, Personal rollmöglichkeiten geschaffen, für viele Organisationen aktu-
geht. Hier sein Essay: und Infrastruktur gewinnen be- die der Sozial- und Gesund- Bild: zVg ell vieles unmöglich oder nur
triebsökonomische Überlegun- heits-Branche Entlastung durch Sozialökonom und Interim-Manager eingeschränkt umsetzbar, was
«Inzwischen rollt die Omik- gen zunehmend an Relevanz. Hardware- (Kraftverstärker für Dr. Matthias Schweizer: «Die Unge- vorher selbstverständlich war.
ron-Welle über die Schweiz. die Umlagerung), Software- wissheit anzunehmen, führt zu einer Das aktuelle Krisengesche-
Schrittweise begrenzen so- Veränderte Anforderungen (Sensoren für die Messung von veränderten Sichtweise und kann hen ist eine aussergewöhnli-
ziale Einrichtungen die indi- erfordern neue Lösungen Biodaten) und institutionelle einen Paradigmenwechsel in Ma- che Situation, die unkonven-
viduellen Kontaktmöglichkei- Im Zuge der allgemeinen Alte- Lösungen (vernetzte Nachbar- nagement und Führung ermöglichen tionelle Reaktionen und Mass-
ten. Engpässe beim Personal, rung finden tiefgreifende Ver- schaftshilfe) ermöglicht. Ferner und zu wesentlichen Veränderungen nahmen erfordert, da (konven-
verursacht durch krankheits- änderungen in der Art der Be- kann der Wunsch der grossen in den Organisationen führen.» tionelle) Planung, Steuerung
bedingte Ausfälle von Mitarbei- treuung, Begleitung, Pflege und Mehrheit, so lange wie möglich und Kontrolle häufig versagen
tenden, komplexere Betreu- Versorgung statt. Während die in der eigenen Wohnung leben Wenn sich die Entscheidungs- und Nichtstun keine Option
ungssituationen, die reduzierte Anzahl der Betreuungsplätze zu können, durch den techni- lasten ballen, wird deutlich, darstellt. War früher die Sta-
Unterstützung Angehöriger und in den letzten Jahren weni- schen Fortschritt immer häufi- dass Führungsimpulse nicht bilität die Norm und die Insta-
ger und länger erfüllt werden. nur von Hierarchien kommen, bilität die vorübergehende Er-
Dadurch werden (neue) Wohn- die üblicherweise dafür zustän- scheinung, so ist es heute um-
und Betreuungsformen beliebte dig wären. Stattdessen wird (im gekehrt. Veränderungen bezie-
Investitionsobjekte. Die breite Sinne von Führung) dort Ein- hen sich nicht mehr nur auf
und gesicherte Abdeckung ver- fluss geltend gemacht, wo die die Einführung von Systemen
schiedener Kostenträger wie Unsicherheit über das richtige oder Restrukturierungen, son-
Privatpersonen, Krankenkas- Handeln zu gross wird und die dern auf tiefgreifende Trans-
sen und öffentliche Hand lo- Weisungen «von oben» fehlen formations-Prozesse über die
cken Finanzgesellschaften oder oder fraglich sind. Wenn keine gesamte Organisation und da-
branchenfremde Unternehmen passenden Arbeitsanweisun- rüber hinaus. In solchen Ver-
an. Mit effektiven Belegungs- gen zur Verfügung stehen, wird änderungsprozessen, die zu
Konzepten, vorausschauen- der Führungsimpuls durch in- wesentlichen Neuerungen füh-
dem Risikomanagement, effizi- formelle «Macht» durchgesetzt. ren (sollen), gibt es kaum eine
enten Strukturen und moder- Doch trotz «agiler» Heilsver- Sachfrage, die nicht zugleich
nen Infrastrukturen sind sie in sprechen kommt keine Organi- auch eine Machtfrage ist. Denn
der Lage, Skalierbarkeit durch sation ohne hierarchisches Sys- es geht um eine Neuverteilung
Masse zu erzeugen. tem aus. Allein schon deshalb knapper Ressourcen und um
nicht, weil das Gesellschafts- die Herstellung eines neuen
Multiple Führungsimpulse recht und Aktiengesetz ein sol- Machtgleichgewichts bzw. die
Gewiss verfügen sozialen Ein- ches System in Gestalt zumin- Veränderung der bestehenden
Bild: PEXELS
richtungen über ein Manage- dest einer Geschäftsführung Spielregeln.»
Manche Führungskräfte sehen Ungewissheit und Komplexität als Belastung, ment, welches daran beurteilt und eines Aufsichtsrates er-
andere eher als Herausforderung und Anschub für Veränderungsprozesse wird, ob die Schlüsselfaktoren zwingen. JoW, MaS